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Dolmetschen in Gebärdensprache: Wie Corona Gehörlosen Gehör verschafft

Es ist in der zweiten Corona-Welle gegen Ende 2020, als auch ich mir die Medienkonferenz des Bundesrats im Schweizer Fernsehen anschaue. Zum einen interessieren mich natürlich die neuen Massnahmen, als Texterin und Kommunikatorin aber auch stets die Art und Weise sowie die Strategie, wie etwas kommuniziert wird – gerade in einer Krise. Sehr bald gilt meine Aufmerksamkeit aber keinem der beiden Themen mehr – denn plötzlich sehe ich meine Vereinskollegin Sarah Caminada am Bildschirm und frage mich, ob das wirklich sein kann… Nein, sie ist weder Politikerin noch Fachexpertin und auch nicht Journalistin. Trotzdem steht sie da, wild gestikulierend, vor einem Millionenpublikum: Sie dolmetscht die Medienkonferenz simultan in Gebärdensprache! Fasziniert und schwer beeindruckt hänge ich nicht primär an ihren Lippen – sondern vor allem an ihren Händen und ihrer Mimik. Unglaublich, wie schnell und scheinbar präzise sie das alles ausdrückt. Ob sie wirklich genau das übersetzen kann, was gesprochen wird? Wie viele Details muss sie weggelassen, weil es zu schnell geht oder es in Gebärdensprache keine Ausdrücke dafür gibt? Kann sie Emotionen oder Tonalität auch rüberbringen? Wer merkt, wenn ihr ein Fehler passiert? Wie auch bei klassischem Übersetzen oder Dolmetschen in gesprochene Sprachen ist es sicher auch hier Berufsstolz und Vertrauenssache. Nur – in Zeiten von Deepl und Google-Translator kann man bei klassischen Fremdsprachen die Inhalte doch manchmal noch nachvollziehen oder zumindest ansatzweise überprüfen. Bei der Gebärdensprache geht das kaum – es ist eine Art Geheimsprache unter den Gehörlosen, eine Welt, in der uns Hörenden für einmal quasi die Hände gebunden sind.

Ich fühle mich zurückversetzt in die Primarschulzeit, in der ich und meine damals besten Freundinnen manchmal in Geheimsprache zu kommunizieren versuchten, damit andere uns nicht verstehen. Oft wurden wir deswegen von den Lehrern getadelt. Dass dies aber auch bis vor Kurzem den Gehörlosen  trotz ihren Einschränkungen widerfuhr, ja, sie wegen der Nutzung ihrer Sprache sogar geschlagen wurden, ist traurige Realität: Obwohl Gebärdensprache schon auf die Antike zurückgeht, wollte man ab Anfang des 19. Jahrhunderts gehörlose Kinder ausschliesslich zum Sprechen erziehen. Hörende bekämpften die Gebärdensprache mit allen Mitteln und machten sie als «Affensprache» schlecht, worauf sie ab 1880 länderübergreifend in fast allen Schulen verboten wurde – ein Zustand, der mancherorts bis in die 1990er-Jahre anhielt…

Die Gebärdensprache überlebte vor allem dank der Anwendung im Untergrund und im privaten Bereich der Familie. Obwohl sie heute offiziell als vollwertige Sprache akzeptiert ist, kämpfen die rund 500'000 Hörbehinderten in der Schweiz auch jetzt noch ständig um Gleichberechtigung. So wurden beispielsweise die Medienkonferenzen des Bundes zu Corona anfänglich nicht in Gebärdensprache übersetzt – erst auf Druck des Schweizerischen Gehörlosenbundes wurden Gebärdensprachdolmetscher engagiert. Meine Vereinskollegin Sarah ist eine davon und verschafft durch ihre Arbeit der gehörlosen Minderheit in der Deutschschweiz in der aktuellen Krise Zugang zu wichtigen Informationen.

Auch andere aus unserem Verein sind beeindruckt – wie ich wussten offenbar viele nicht von Sarahs Engagement. Der Club-Chat läuft auf Hochtouren – es kommen zahlreiche Komplimente, Bewunderung und Respekt, aber auch unzählige Fragen, von denen eine kleine Auswahl weiter oben schon aufgeführt ist. Ich will mehr wissen und beschliesse, Sarah anzurufen. Resultat unseres Telefontermins wird ein hochspannendes Interview über Gebärdensprachdolmetschen, das am Ende dieses Textes in voller Länge folgt und viele der Fragen aus unserem Club-Chat beantwortet. Aus den Rückmeldungen im Verein wird aber auch klar, dass vielen von uns bis jetzt überhaupt nicht bewusst war, welch schweren Stand Hörbehinderte hierzulande eigentlich haben. So ist es auch durchaus etwas ironisch, dass diese Minderheit durch die am TV gedolmetschten Medienkonferenzen plötzlich eine deutlich breitere Aufmerksamkeit erhält, just in einer Zeit, in der sich ihre Alltagskommunikation wegen der ausgedehnten Maskenpflicht noch viel schwieriger gestaltet, als sonst.

Einen positiven Aspekt erläutert Tatjana Binggeli, Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbundes im Wissensmagazin Einstein des Schweizer Fernsehen dennoch: Wegen der Masken erfahren momentan auch Hörende am eigenen Leib, wie viel nonverbale Information in einem Gespräch plötzlich fehlt, wenn nur noch ein Teil der Mimik sichtbar ist. So wächst zumindest im Ansatz das Verständnis, was Sprachbarrieren für Betroffene bedeuten. Mehr Empathie und die Bemühungen von Hörenden, sich deutlicher auszudrücken, seien für Hörbehinderte zurzeit spürbar, findet Binggeli. Bleibt zu hoffen, dass Corona dadurch zumindest den Gehörlosen auch nachhaltig und über die Zeit der Maskenpflicht hinaus mehr Gehör verschafft – und der Gebärdensprache mehr Sichtbarkeit.

 

«Grundsätzlich lässt sich alles übersetzen!» – Gebärdensprachdolmetscherin  Sarah Caminada im Interview

TEXTSCHAFT: Sarah, seit die Medienkonferenzen des Bundes zu Corona in Gebärdensprache gedolmetscht werden, stehst du bei deiner Arbeit plötzlich vor einem Millionenpublikum. Erhältst du viele Reaktionen?
Sarah Caminada: Ja, es sind deutlich mehr als vorher. Bis anhin nahmen eigentlich nur Leute die Übersetzungen in Gebärdensprache wahr, die sich quasi zufällig oder fast irrtümlich mal Sendungen auf SRF Info statt auf den Hauptkanälen anschauten und uns dann da bei unserer Arbeit sahen. Durch die jetzigen Engagements bei den Medienkonferenzen erhält die Gebärdensprache scheinbar schon eine viel höhere Aufmerksamkeit.

TEXTSCHAFT: Wie genau lässt sich überhaupt in Gebärdensprache übersetzen? Musst du viele Details weglassen, weil es keine entsprechenden Ausdrücke gibt oder es einfach zu schnell geht?
Sarah Caminada: Grundsätzlich lässt sich alles in Gebärdensprache übersetzen, die sprachlichen Mittel sind vorhanden – und das ist natürlich auch immer das Ziel. Bei neuen Begriffen, zu denen es noch keine etablierten Gebärden gibt, müssen wir aber manchmal kreativ sein und beispielsweise mittels Fingeralphabet buchstabieren. Da kann die Zeit in einer Medienkonferenz schon mal etwas knapp werden.

TEXTSCHAFT: Wie entstehen denn neue Begriffe in Gebärdensprache? Gibt es dazu ein filmisches Wörterbuch?
Sarah Caminada: Hier muss ich erst anfügen, dass es zahlreiche verschiedene Gebärdensprachen gibt. Ich kann den Prozess nur für die Deutschschweizer Gebärdensprache erklären, in die ich auch dolmetsche. Es gibt tatsächlich ein Online-Lexikon vom Schweizerischen Gehörlosenbund. Allerdings dauert es manchmal etwas länger, bis neue Ausdrücke da drin erscheinen, da sie erst aufgenommen werden, wenn sie genügend etabliert sind. Neue Gebärden entstehen jeweils bottom-up aus der Community heraus und müssen sich im Gebrauch erst durchsetzen. Die gebräuchliche Gebärde für Corona war beispielsweise im Februar 2020 noch eine andere, als jetzt. Es ist also ein sehr lebendiger Prozess. Mein Arbeitgeber stellt uns daher auf einer Plattform jeweils Inputs direkt von Gehörlosen zur Verfügung, die wir so bei aktuellen Themen auch schon nutzen können, bevor sie im Wörterbuch erscheinen.

TEXTSCHAFT: Weshalb gibt es denn so viele verschiedene Gebärdensprachen?
Sarah Caminada: Wie bei gesprochenen Sprachen entstanden in verschiedenen Regionen halt auch verschiedene Gebärdensprachen. Diese sind komplett losgelöst von den jeweiligen Lautsprachen, aber halt doch unterschiedlich. Es gibt allein in der Schweiz drei verschiedene Gebärdensprachen, je für die deutsch-, die französisch- und die italienischsprachige Schweiz. Angrenzende Länder wie Österreich oder Deutschland verwenden wieder andere Gebärdensprachen. Dazu kommen zahlreiche regionale Dialekte. In der Deutschschweiz unterscheidet man deren fünf, die historisch aus den verschiedenen Gehörlosenschulen gewachsen sind. Diese sind sich aber nahe genug, dass sich alle untereinander verstehen.

TEXTSCHAFT: Gibt es denn eine internationale Gebärdensprache als Konsens?
Sarah Caminada: Es gibt «International Sign», das dem ansatzweise gleichkommt. International Sign wird aber bewusst nicht als effektive Sprache bezeichnet, da es eigentlich ein künstliches Konstrukt ist. Spannend ist, dass sich Gehörlose aus verschiedenen Regionen trotz unterschiedlicher Gebärdensprachen oft rasch verstehen. Wenn wir Hörenden im Ausland sind und uns verbal nicht ausdrücken können, beginnen wir auch automatisch, mit Händen und Füssen zu kommunizieren. Gehörlose sind darin natürlich wahre Meister und können sich dank ihrer grossen Übung meist schnell verständigen.

TEXTSCHAFT: Wie ist es denn mit Emotionen, Tonalität oder gar Humor und Wortwitz? Lässt sich das in Gebärdensprache übersetzen?
Sarah Caminada: Emotionen werden ja auch von Hörenden sehr stark durch Körpersprache und Mimik ausgedrückt – das lässt sich also wunderbar übertragen. Auch einer Tonalität liegt meist eine Art Emotion zu Grunde, das funktioniert weitgehend. Was Humor und Wortwitz betrifft – da könnten auch konventionelle Dolmetscher von gesprochenen Sprachen abendfüllend Anekdoten erzählen… Wortwitze lassen sich so gut wie nie adäquat in eine andere Sprache übersetzen – auch nicht in Gebärdensprache. Humor eigentlich schon. Wie er ankommt, ist aber – wie unter Hörenden – viel mehr von den anwesenden Menschen beziehungsweise deren Humor abhängig, als von den sprachlichen Mitteln.

TEXTSCHAFT: Wie wird man überhaupt Gebärdensprachdolmetscher, beziehungsweise, wie war dein Werdegang?
Sarah Caminada: Der Beruf des Gebärdensprachdolmetschers ist noch jung, den gibt es offiziell erst seit den 90er-Jahren. Ursprünglich habe ich an der Uni Bern Englisch studiert. Das allein erfüllte mich aber noch nicht. Aus rein sprachlichem Interesse habe ich dann einen Gebärdensprachkurs besucht – da hat es mir regelrecht den Ärmel reingenommen! Daraufhin habe ich an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich den Bachelor of Arts in Sign Language Interpreting für die Deutschschweizer Gebärdensprache gemacht. Dieser Lehrgang startet bisher aber nur alle drei Jahre.  

TEXTSCHAFT: Du hattest vor deiner Ausbildung also keinerlei persönlichen Bezug zur Gebärdensprache, beispielsweise einen familiären Hintergrund?
Sarah Caminada: Nein. Ich habe diesbezüglich weder einen familiären Hintergrund noch ein Helfersyndrom. Mein Interesse war primär sprachlicher Natur. Auch in meiner Klasse hatten nur gerade einzelne einen persönlichen Bezug. Eine gewisse Distanz ist in diesem Beruf im Sinne von Gleichberechtigung auch hilfreich. Wer nur aus Mitleid für Gehörlose studieren will, wird gar nicht erst zugelassen. Ich komme aber ursprünglich aus dem Bündnerland und bin mit Romanisch aufgewachsen. Ich weiss also zumindest, was es bedeutet, einer sprachlichen Minderheit anzugehören.

TEXTSCHAFT: Wie kamst du zu den Engagements bei den Medienkonferenzen des Bundes?
Sarah Caminada: Die Buchungen laufen über meinen Arbeitgeber Procom. Wir sind allerdings nie in Bern vor Ort, sondern dolmetschen aus dem TV-Studio in Zürich.

TEXTSCHAFT: Ich stelle mir das als riesige Herausforderung vor… Was ist dabei am anspruchsvollsten?
Sarah Caminada: Live-Gefässe sind natürlich immer anspruchsvoller als aufgezeichnete Sendungen. Hier ist es aber insbesondere die Kombination mehrerer fordernder Einzelkomponenten im Paket. Wir können uns jeweils nur marginal auf diese Einsätze vorbereiten, da wir vorab auch nicht mehr wissen, als der normale Bürger. Die Themen sind oft sehr komplex oder auch wissenschaftlich, insbesondere bei den Experten-Konferenzen des BAG, die wir ja auch dolmetschen. Die Inhalte sind von nationaler Relevanz und haben eine sehr hohe Reichweite. Zudem sind wir ja Dolmetscher, nicht Schauspieler. Die Präsenz der Kamera trägt also eher nicht zur Beruhigung bei und auch nicht, dass die Beiträge später für lange Zeit im Archiv verfügbar sind… Da ist der Druck schon hoch, eine gute Leistung zu bringen. Man ist die ganze Zeit voll konzentriert.

TEXTSCHAFT: Das ist vermutlich auch der Grund, weshalb ihr euch jeweils abwechselt?
Sarah Caminada: Genau. Bei diesen Medienkonferenzen vor Kamera sind wir immer zu zweit und wechseln uns etwa alle zehn Minuten ab. Einfach Pause machen können wir dazwischen aber nicht. Wir müssen natürlich alles mitbekommen, um nachher inhaltlich den Zusammenhang wieder herstellen zu können oder bei Journalistenfragen im Anschluss den Bezug zu haben. Noch anspruchsvoller ist eigentlich nur die Tagesschau, da dort zusätzlich alle paar Minuten das Thema wechselt. Aber die dolmetsche ich nicht.

TEXTSCHAFT: Überprüft jemand während diesen Einsätzen jeweils eure Übersetzungen auf inhaltliche Richtigkeit?
Sarah Caminada: Nein, nicht direkt. Aber wir erhalten manchmal schon Rückmeldungen von Gehörlosen oder von unserem Arbeitgeber. Aufgrund dieser Feedbacks sind wir natürlich auch stets bestrebt, uns zu verbessern.

TEXTSCHAFT: Immerhin dürft ihr ohne Maske arbeiten…
Sarah Caminada: Ja, in Gebärdensprache übersetzen geht mit Maske definitiv nicht. Deshalb müssen wir zurzeit aber bei unseren Einsätzen besonders vorsichtig sein in Bezug auf Abstand – oder wir lösen es auch mal über Videocalls.

TEXTSCHAFT: Was bedeutet die zurzeit sehr ausgedehnte Maskenpflicht für Gehörlose?
Sarah Caminada: Da ich selber hörend bin, kann ich hierzu nicht für Gehörlose sprechen. Als Gebärdensprachdolmetscher sind wir zwar oft die Exponenten, aber nicht die Repräsentanten der Gehörlosen. Auch wir können uns nur eingeschränkt in deren wirkliche Situation versetzen – da wäre es nicht adäquat, hierzu für sie Stellung zu nehmen. Da Masken aber sogar für uns Hörenden die Kommunikation merklich beeinträchtigen, ist die momentane Situation für Hörbehinderte sicher nochmals deutlich erschwert. 

TEXTSCHAFT: Ist die aktuell erhöhte Aufmerksamkeit für die Gebärdensprache eine Chance?
Sarah Caminada: Ich hoffe es. Gehörlose müssen noch immer sehr oft darum kämpfen, dass Gebärdensprachdolmetscher finanziert werden. Eine breitere Aufmerksamkeit hilft hier hoffentlich.

TEXTSCHAFT: Sarah, vielen Dank für dieses interessante Gespräch!

Zur Person
Die 33-jährige Sarah Caminada ist im romanischsprachigen Bündnerland aufgewachsen und lebt heute in Bern. Sie hat ursprünglich Englisch studiert, seit 5 Jahren ist sie zudem diplomierte Dolmetscherin für Gebärdensprache. Sie arbeitet in einem 60%-Pensum bei der Stiftung Procom, dem Schweizer Vermittler von Dolmetschdienstleistungen für Hörbehinderte. Anfangs 2021 startet sie berufsbegleitend das europäische Master-Studium für Gebärdensprachdolmetschen (EUMASLI). Zudem arbeitet sie 40% an der Uni Bern im Bereich Studienangebotsentwicklung.

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