Kurz nach Weihnachten bauten mein Mann und ich mit unserer Tochter ein Lebkuchenhaus, um es danach mit vielen farbigen Zuckerfiguren zu verzieren. Bei der Montage der Wände und des Daches war ich aktiv dabei, wegen eines Anrufs überliess ich die Dekoration aber den beiden ohne mein Beisein. Nach meinem Telefonat begutachtete ich das fertige Lebkuchenhäuschen: Es war richtig hübsch geworden, mit vielen liebevollen Details. Ich freute mich sehr über das gemeinsame Werk meiner Liebsten und sparte nicht mit Komplimenten.
Nur eines machte mich etwas stutzig: «Weshalb habt ihr denn die Brezeln verkehrt herum aufgeklebt?», fragte ich meinen Mann neugierig. «Ach, die wollte die Kleine so herum haben», antwortete er achselzuckend. Ich war etwas überrascht: «Sie hat mir vorhin aber erzählt, sie hätte nur die zwei beim Kamin angebracht.» «Eben…» «Ja, aber das sind ja die einzigen, die richtig herum sind», sage ich. Mein Mann schaut mich verständnislos an: «Du meinst, das sind die einzigen, die falsch herum sind», entgegnet er. «Eben nicht», sage ich. «Alle anderen sind doch falsch…» Wieder schauen wir uns an. Erst verständnislos, dann plötzlich lachend. Wir hatten eben begriffen, dass unser Verständnis von einer richtig herum platzierten Brezel offensichtlich verschieden ist – und dann ist uns wohl gleichzeitig bewusst geworden, dass es bei der Position einer Brezel eigentlich gar kein richtig oder falsch gibt. Für mich ist die Variante «Schaukelpferd», also der grosse Bogen unten, stimmiger und damit für mein Empfinden «richtig», für meinen Mann die Variante «auf zwei Höckern stehend».
Dass wir zur «richtigen» Position einer Brezel verschiedene Meinungen haben, ist dabei überhaupt kein Problem. Das Problem war viel mehr die Selbstverständlichkeit unserer eigenen Wahrnehmung und die damit verbundene, sprachlich wertende Ausdrucksweise, die offensichtlich zu einem Missverständnis geführt hat. Ein Missverständnis, dass schlussendlich mit grossem Lachen geendet hat. Aber auch eines, mitunter kommunikativer Art, wie es uns immer wieder begegnet – vermutlich sogar oft, ohne dass wir es merken und vielleicht auch mit weniger lustigem Ende. Im Falle unserer Brezeln haben wir beide ganz automatisch, aber komplett unbegründet, unsere eigene Position als die richtige angeschaut und dabei nicht mal in Betracht gezogen, dass es eine andere Meinung geben könnte, die vielleicht auch nicht falsch ist. Diese andere Perspektive hatte im Strudel des eigenen Selbstverständnisses bis dahin schlicht gar keinen Platz gehabt. Entsprechend tendenziös war auch die sprachliche Ausdrucksweise. Immerhin redeten wir miteinander, konnten das Missverständnis klären und Brezelgate für beendet erklären.
Bevor ich das nächste Mal aber etwas als richtig oder falsch betitle, werde ich – Brezelgate sei dank – mich auf jeden Fall zuerst fragen, ob es denn überhaupt richtig oder falsch gibt, oder ob es vielleicht einfach anders ist und ich es daher auch sprachlich offener formulieren sollte… Und ich bin gespannt, wie viele ähnliche Angelegenheiten ich zukünftig noch aufdecken darf. Im Falle der Brezel hat es bei meinem Mann und mir doch fast 12 Jahre gedauert, bis wir dieser Meinungsverschiedenheit auf die Spur gekommen sind…
Übrigens, unsere Besucher, die das Lebkuchenhaus am Folgeabend als Dessert vorgesetzt bekamen, waren bezüglich der richtigen Positionierung einer Brezel ebenfalls geteilter Meinung. Auch die Auslagen in Bäckereien, die ich seither eingehend auf diesen Sachverhalt studiere, liefern keine eindeutige Tendenz. Es scheint im Falle der Brezelposition also tatsächlich kein richtig oder falsch zu geben, sondern schlicht eine Frage der Perspektive zu sein – und der adäquaten Kommunikation.